Stell Dir vor Du bist krank, und niemand glaubt Dir: Meine Geschichte zu ME/CFS

Meine Erfahrungen auf dem Weg zur Diagnose ME/CFS
Mann im grauen Trainingsanzug liegt auf einem Bett, ruht mit einer Hand auf der Stirn und hat die Augen geschlossen.

ME/CFS ist eine dieser Erkrankungen, die keiner kennt. Auch die meisten Mediziner leider nicht. Als selbst Betroffener möchte ich die Reichweite von KingBEAR nutzen und ein wenig zur Aufklärung beitragen. Das ist zwar nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber es ist eine Herzensangelegenheit. Denn nur durch umfassende Aufklärung lässt das Martyrium, dass ich hier beschreiben möchte, für “neue” Betroffene vielleicht zukünftig vermeiden.

Was hier folgt, ist echt viel Text. Es reflektiert meinen Werdegang von Corona zu ME/CFS mit all seinen großen und kleinen Schwierigkeiten und Absurditäten. Die Diagnose selbst ist dabei noch ganz frisch und falls jemand das liest, um Ratschläge zu finden, sucht er vergeblich. Vielleicht aber hilft es Nicht-Betroffenen, wenn sie einen Einblick in das Prozedere und vor allem in das bekommen, was die ewige Warterei und Fehldiagnostik samt Stigmatisierung mit uns Betroffenen macht.

Wenn Du vorab ein paar Informationen zu ME/CFS, dem Kardinalsymptom PEM und zum Pacing haben möchtest, kannst Du Dich gern auf den Seiten der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS e.V. informieren. Was die Krankheit mit mir so anstellt und was sich jetzt – auch für KingBEAR – ändert, habe ich in diesem Blogbeitrag ein wenig kürzer und emotionsloser zusammengefasst.

Falls Freunde, Bekannte oder Verwandte sich in der ein oder anderen geschilderten Szenerie wiederzufinden glauben: egal wie es rüberkommt – ich wäre nichts ohne Euch. Vielleicht wird ja hier klar, warum das ein oder andere gut gemeinte Angebot von Euch bei mir trotzdem auf soviel Ablehnung gestoßen ist.

Wie krass teilweise medial und – noch viel schlimmer – in der Medizin mit dem Thema Long-COVID und ME/CFS umgegangen wird, zeigt das ZDF in diesem Beitrag. Böhmermanns Humor ist nicht jedermanns Sache, aber er bringt es hier auf den Punkt. Falls Du glaubst, meine Geschichte sei ein Einzelfall: das Video zeigt das Gegenteil.

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Von COVID19 zu ME/CFS: Meine Geschichte

Dezember 2022

Corona ist kein Schnupfen. Auch heute nicht.

Beinahe die ganze Pandemie über herrschte im Hause KingBEAR das Glück, doch im Dezember 2022 erwischte es uns dann doch: eine Woche vor Weihnachten lagen wir mit einer Corona-Infektion flach. Trotz Impfung, trotz Maske, trotz Abstand. Aber so ist das nunmal mit Virus-Infektionen.

Während sich bei meinem Mann die Symptome auf ein bisschen Husten und Abgeschlagenheit beschränkten und er nach 3 Tagen schon wieder negativ getestet war, haute es mich eine volle Woche mit hohem Fieber und rasenden Kopfschmerzen vollkommen aus der Bahn. Muss von außen witzig gewesen sein, was ich bei über 40° im Fieberwahn so von mir gab, aber angefühlt hat es sich damals wie der kleine Tod.

Aber das ging dann auch vorbei, pünktlich zu Heiligabend. Eine Woche fühlte ich mich wie das blühende Leben, zumindest im Vergleich zu der Woche davor. Ich ging wieder ins Büro, alles schien normal. Aber dann, kurz nach Neujahr 2023, war plötzlich alles anders.

Januar 2023

Achterbahn im Immunsystem

Nach ein paar ganz normalen Tagen passierte es zum ersten Mal. An einem Mittwoch. Gegen Mittag plötzlich starke Kopfschmerzen und Schüttelfrost. Der Bürokollege fragt mich nach dem Verstand, als ich die Heizung noch höher drehe. Irgendwie schaffe ich es noch bis Feierabend. Zuhause wird Fieber gemessen – über 40, Ibu, Bett. Vor dem Einschlafen der Plan: morgen gehe ich zum Arzt.

Nach einer durchgeschwitzten Nacht wache ich auf. Und es ist, als wäre nichts gewesen. Nur die Kopfschmerzen sind noch da, sind aber auszuhalten. Also doch nicht Arzt, sondern Büro. Ich arbeitete damals als Berufstrainer in einer Reha-Einrichtung für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Da konnte es schon mal herausfordernd werden. Und mit Blick auf den vergangenen Fieber-Tag sind Konzentrationsprobleme ja völlig normal. Oder?

Das Fieber-Szenario wiederholte sich den ganzen Januar über immer wieder. Mal einmal, mal zweimal in der Woche. Und es zehrte an meiner Kondition: mit jedem Mal fühlte ich mich schlapper, nur wenn ich dann endlich mal beim Arzt saß, war ja nichts mehr. Die Fieberschübe dauerten manchmal nur Stunden, und außer Schlappheit und mieser Laune war dann beim Arzt nichts festzustellen. Auf die Idee, sich mal mein Blut anzuschauen, kam er damals nicht. Wohl aber darauf, mir ein Rezept über Antidepressiva anzubieten. Da war ich das erste Mal sauer. Und ich ging halt einfach nicht mehr hin, wenn mein Fieber wieder Hallo sagte. Und irgendwie fing ich auf der Arbeit an, die Namen meiner Reha-Teilnehmer zu vergessen.

 

März 2023

Das erste Mal Gefahr.

An einem Wochenende Anfang März aber ging dann nichts mehr. Freitags mit Fieber nach Hause, Samstag und Sonntag plattgelegen. Montags immer noch Fieber und so schlapp, dass an Arbeit kein Denken war. Also doch zum Arzt. Nach 2 1/2 Stunden mit Schüttelfrost im eiskalten Wartezimmer (Durchzug wegen Corona) rammt er mir ein Thermometer ins Ohr, saugt die Luft scharf ein und drückt mir einen gelben Zettel in die Hand: Einweisung ins Krankenhaus, Verdacht auf Sepsis. Oder – Achtung! – Zeckenbiss. Spannende Diagnose in 40 Sekunden, aber zum diskutieren hatte ich keine Energie.

In der Notaufnahme des Mayener Krankenhauses bekam die freundliche Ärztin erst einmal einen kurzen Lachflash. Wegen der Zecken-Nummer im Winter. Als dann aber die ersten Laborwerte kamen wurde es ein wenig hektisch. Antibiotika dran und ab auf Station, denn die Entzündungswerte im Blut waren dramatisch hoch. Mir ging es so richtig beschissen, zumal der Kopf mal wieder zum Explodieren schmerzte.

Zunächst hatte ich Glück: Einzelzimmer. Die Antibiotika-Infusion tröpfelte vor sich hin, daneben tropften die Schmerzmittel und in der Ecke der Wasserhahn. Ein ruhiges, leicht morbides Idyll. Man wartete gespannt auf die Blutkultur und ein Antibiogramm. Doch schon ein paar Stunden später war mit der Ruhe Schluss: mitten in der Nacht zog ein Mitpatient ein, ich nenne ihn “Maule-Paule”. Selbst eingewiesen aufgrund von OP-Komplikationen aufgrund von Sturheit und damit verbundener vorzeitiger Entlassung. Jetzt sauer, weil ja die Ärzte alles Schuld sind. Die sind nämlich dumm.

Okay, Schmerzmittel machen leicht selig, und das macht Maulepaule erträglich. Auch wenn er sehr nachdrücklich ignoriert, dass ich seine Gesprächsversuche sehr angestrengt ignoriere. Es wurde Vormittag, und An-Eckbert zog ein.

Maule-Paule und An-Eckbert kennen sich gut. Und sie sind beide jenseits der 80 und schwerhörig. Maule-Paule muss am Fenster liegen weil er sonst erstickt. Und An-Eckbert direkt am Zimmereingang, weil er schlecht zu Fuß ist und einen kurzen Weg zur Toilette braucht. Und so liege ich zwischen zwei sich fröhlich anbrüllenden alten Herren mit erstaunlich viel Ausdauer. Und mir platzt der Schädel. Irgendwie merke ich aber auch, dass es nicht nur der Kopf ist: ein Gefühl des Energie-Abflusses macht sich breit, zum ersten Mal spürbar und irgendwie beunruhigend.

Blutkultur und Antibiogramm zeigen keine Auffälligkeiten, die Antibiotika werden abgesetzt. Weil aber die Entzündungswerte noch immer jenseits von Gut und Böse sind, läuft die diagnostische Maschinerie auf Hochtouren. Alles, was in Mayen untersucht werden kann, wird untersucht. Mit einer wirklich erwähnenswerten Freundlichkeit und gut organisiert. Aber leider kommt nichts bei raus. Und als Freitags dann die Blutwerte wieder normal sind, spuckt mich die Medizinmaschine wieder aus. Mit nach Hause nehme ich immer noch wahnsinnige Kopfschmerzen, unfassbare Erschöpfung und einen Entlassbrief mit der Bitte, das Ganze unbedingt neurologisch und immunologisch abzuklären.

Es folgt der grandiose Abschied von Hausarzt 1. Auf meine Bitte, mich wenigstens noch ein paar Tage arbeitsunfähig zu schreiben, werde ich angeblafft. Was ich denn noch wolle, schliesslich wäre ich ja schon für nix und wieder nix eine Woche auf Urlaub im Krankenhaus gewesen. Ich solle mich bitte mal zusammenreissen, Antidepressiva schlucken und regelmässig spazieren gehen. Und so ging ich. Das erste Mal in meinem Leben völlig verzweifelt. Ich ging aus der Praxis, und ich schleppte mich auf die Arbeit. Fällt schwer, so als Versager, Simulant und Sozialschmarotzer.

 

April 2023

Das diffuse Abwärts.

Irgendwie schaffte ich es, die Zeit nach Feierabend und vor allem die Wochenenden zu nutzen, um mich zu erholen. Zumindest ein bisschen. Allerdings blieb KingBEAR – “die Firma” – dabei ziemlich auf der Strecke. Freunde, Familie und Ehe auch – es ging einfach nix. Damit ich nicht als “faule Sau” wahrgenommen würde, stürzte ich mich in der Freizeit in teils sinnlose Aktivitäten. Sinnvolle gingen nämlich nicht, dazu fehlte mir die nötige Konzentration und die Fähigkeit zu fokussieren.

Auf der Arbeit lief das leider ähnlich. Die Arbeit mit den Reha-Teilnehmern gestaltete sich zunehmend qualvoll: allein wenn mehr als eine Person im Raum redete, merkte ich wie mein Akku leerläuft. Und spätestens Mittags ging dann vor allem im Kopf nichts mehr. Und auch hier versuchte ich, meine mangelnde Qualität durch schiere Quantität zu überdecken, nur um nicht als “Verpisser” dazustehen. Über allem aber stand das Problem, dass ich mich von den Problemen meiner Maßnahme-Teilnehmer nicht mehr abgrenzen konnte, was in diesem Job eine überlebenswichtige Qualifikation sein sollte. Für die “Firewall” war kein Saft mehr da, jede Teilnehmerkrise wurde auch meine. Das habe ich natürlich nie zugegeben, denn falls der Arzt doch Recht hat und ich auch einer von “diesen Psychos” (liebe Ex-Teilnehmer, ihr versteht das wenn ich das sage) bin, dann bin ich hier geliefert.

Zu den Kopfschmerzen gesellten sich Schmerzen in der Muskulatur. Und weil die Ibuprofen aus der Apotheke nicht mehr wirkten, besorgte ich mir aus finsterer Quelle was Stärkeres. Da kam auch schon mal ein ganzes Gramm Novalgin über Tag zusammen, was meiner Konzentrationsfähigkeit dann den Rest gab.

Irgendwann kam dann auch das Fieber zurück und ich konnte einfach nicht zur Arbeit. Schon allein, weil es ja doch ein Infekt sein könnte. Und es ist endlich was Messbares, das kannst Du vorzeigen und dann ist es okay, wenn Du Dich krankmeldest. Und weil ich zu Arzt Nr. 1 ja nicht mehr gehen wollte, wurde ich neuer Patient bei Dorfarzt Nr. 2. Der war nett, hatte ein nettes Team, und der hörte sich erst mal alles an. Dann schrieb er mich satte 3 Tage krank. Auch meiner Bitte, nochmal Blut abzunehmen, kam er nach. Allerdings erst mit Termin in 3 Tagen. Da war das Fieber schon wieder weg, und – schwupp! – das erste Mal die Frage, ob ich schonmal was an der Psyche hatte. Aufgrund der Kopfschmerzen folgte auch die Überweisung an eine Neurologin, Befund: Migräne. 

Irgendwo im Kontext meines Jobs hatte ich gelesen, dass es sowas wie “Long-COVID” gibt. Betroffene schilderten ähnliche Beschwerden. Im Gespräch mit dem Doc sagte er, das sei noch total unerforscht, man vermute irgendwas mit irgendwelchen Rezeptoren, und das geht dann wieder weg.  In der Zeitung las ich, dass in Koblenz eine Spezialambulanz für Long-COVID eröffnet hatte. Okay, dann melde ich mich da mal und frag nach einem Termin. Gesagt, getan: Wartezeit 12 Monate. Wir melden uns bei Ihnen. Shit.

Alles wurde schlimmer. Konzentration im Job: bis maximal 12 Uhr, dann ist vorbei. Schmerzen überall: ignorieren und weg-drogen. Ein Privatleben existiert nicht mehr, denn nach Feierabend geht nur noch Couch. Meinem Mann gegenüber fühle ich mich wie ein Stück Scheisse, traue mich aber nicht darüber zu sprechen. Nicht, dass ich am Ende doch der Psycho bin und er auch das noch ausbaden muss. Und außerdem hat der gerade selber genug Päckchen zu tragen. Auf der Arbeit mache ich Fehler. Schwere Fehler, die mir selber nicht mehr auffallen. Niemand wagt, mich darauf anzusprechen.

Mai 2023

Der erste Crash. Mit Wumms. Und mit Folgen.

Bei der Neurologin wird entsprechend der Überweisung lustig rumuntersucht. Erst nachdem ich darauf hinweise, dass das Ganze ja erst nach COVID aufgetreten ist und es sowas wie Long-COVID gibt, erwägt sie ein MRT. Das wird dann auch gemacht, genauso wie eine etwas detailliertere Blutuntersuchung. In beidem zeigen sich Anzeichen für Entzündungen der Blutgefäße, außerdem sind im Blut ein paar Antikörper so gerade eben noch unterhalb des Alarmbereiches, die auf fehlgeleitete Immunprozesse hindeuten können.

Im Arztbrief steht: Spannungskopfschmerz. Ich raste aus. Der Hausarzt stellt ein Rezept über ein Antidepressivum aus, das in niedriger Dosierung auch gegen Migräne helfen kann. Ich könne aber auch gern die volle Dosis nehmen, das helfe ja dann auch bei den “anderen Problemen”. Ich lasse mich auf das Experiment ein, quasi aus Resignation. Um die Erkenntnis aus dem Sommer schonmal vorwegzunehmen: außer, dass ich zusätzlich zu den ganzen Beschwerden auch noch fett geworden bin, hat sich nix geändert.

Mitte Mai passiert es dann: ich kippe zum ersten Mal um. Auf der Arbeit, und zum Glück lag da Teppich im Flur. Ich hatte einfach keine Kraft in den Beinen. Weil auch der Kollege mittlerweile davon ausgeht, dass das alles Kopfsache ist, klettere ich eben alleine wieder auf die Beine und mache weiter, als sei nix gewesen. Zwei Tage später dann Herzrasen und Schmerzen in der Brust. Ab zum Doc, der misst Blutdruck, sagt was von Ernährungsumstellung und nicht mehr Rauchen und verordnet Blutdrucksenker. Dass mein Blutdruck ja normalerweise eher zu niedrig ist und ich noch nie zuvor solche Probleme hatte wird ignoriert.

Ich lasse mich auch auf die Blutdrucksenker ein, denn ein Infarkt käme jetzt irgendwie ungelegen. Die Biester machen aber zusätzlich zur Erschöpfung auch noch müde. Und jetzt habe ich die Schnauze voll. So kann es nicht weitergehen.

Ich suche das Gespräch mit den Vorgesetzten: mein Wunsch ist, Stunden zu reduzieren. Nur vorübergehend, denn dieses Long-COVID geht ja laut Hausarzt von alleine wieder weg. Ganze Tage gehen einfach nicht, und die Abende reichen zum Erholen nicht mehr aus. Ich versuche deutlich zu machen, dass ich bei KingBEAR keine Abstriche machen kann, wenn ich die Firma nicht verlieren möchte. Und gerade die Arbeit in der Firma funktioniert noch gut, weil ich mir da meine Energie selber einteilen kann. Deshalb möchte ich mich nicht krankschreiben lassen, sondern für 3 Monate freiwillig auf Kohle verzichten.

Und das war nicht möglich. Aus sehr nachvollziehbaren Gründen, aber trotzdem ein Schlag in die Fresse. Denn ich habe den Job wirklich gern gemacht und trauere ihm heute noch nach. Jetzt blieb mir leider nur die Kündigung, denn mittlerweile war ich so kaputt, dass ich keine weitere Woche mehr geschafft hätte.

Jetzt war ich also krank und arbeitslos. Ohne Arbeitslosengeld, weil ich selber gekündigt habe. Aber mit etwas Zeit um wieder runterzukommen.

Juni 2023

Raus aus dem Crash und das Leben neu erfinden.

Der Hausarzt weigert sich beharrlich, der Arbeitsagentur gegenüber zu bestätigen dass ich aufgrund medizinischer Probleme kündigen musste. Man hätte ja auch Psychotherapie, Reha und Wiedereingliederung machen können. Es entwickelt sich ein Disput über Henne und Ei: aus seiner Sicht bin ich depressiv und der Rest ist psychosomatisch. Ich stelle dagegen, dass ich krank bin (Fieber, Blutwerte…), massiv eingeschränkt und deshalb schlecht gelaunt. Es führt zu nichts. Eine befreundete Gynäkologin springt ein und schreibt mir die nötigen Gutachten, nur um mich zumindest finanziell unterstützt zu wissen. 

Recht schnell stimmt die Arbeitsagentur zu. Und noch viel besser: die zuständige Beraterin hat schonmal was von “so Problemen nach Corona” gehört und lässt mir hinsichtlich Bewerbungsmarathon erst mal Ruhe. Letztlich sollte es auch als Augenoptikermeister und Betriebswirt nicht so problematisch sein, was zu finden.

Mir geht es in der Zeit ziemlich mies. Kopf- und Muskelschmerzen gehen weg, es bleiben aber die Konzentrationsprobleme. Und sie werden bewusster: Dinge, die ich sonst aus dem Ärmel schüttele, dauern ewig lang. Ich werde fahrig und schnell gereizt, einfach weil nichts so klappt wie es soll. Trotzdem schaffe ich es, Bewerbungen zu schreiben. Und positive Rückmeldungen tun gerade wirklich gut. Ganz bewusst aber suche ich nach Teilzeit-Stellen, denn irgendwie glaube ich nicht mehr daran, dass alles von alleine weg geht. KingBEAR soll zukünftig das Einkommen sichern, und “der Job” die Rente und die Krankenkasse.

Es sind viele attraktive Angebote dabei, doch das Beste kommt unverhofft von meinem Ex-Chef. Die Arbeitszeiten sind für den “Parallelbetrieb” mit KingBEAR optimal, und ich bin in 10 Minuten da. Hervorragend. Mit der Begründung dass wir noch einige Veranstaltungen haben und dem eigentlichen Grund, dass ich noch etwas Erholung brauche, einigen wir uns auf einen Start im August.

Das neue Lebensmodell steht: Selbstständig “plus” mit Handicap. Klingt spannend, klingt gut.

Ich plane den CSD in Köln. Und ich bekomme wieder Fieber. Ich vergesse Geburtstage und versuche mir erfolglos, Wasser aus einer geschlossenen Flasche einzuschenken. Jetzt werde ich also auch noch blöd. Ich bekomme Angst und behalte die für mich. 

Juli 2023

Mal was Neues.

Wir fahren nach Köln. Der CSD soll das Marketing-Event für KingBEAR werden. Und außerdem wird es Zeit, dass wir zwei alten Säcke uns nochmal unter das Feiervolk mischen. Alles scheint gut vorbereitet, aber die Hälfte fehlt irgendwie. Innerlich schäme ich mich unglaublich, nach außen schiebe ich das auf “die Umstände”.

Nichtsdestotrotz läuft’s ganz gut und wir haben unseren Spaß. Allerdings merke ich, dass ich mich nach ein paar Stunden am Stand wie im Nebel fühle. Gesprächsfetzen kommen nur gedämpft an, oft verliere ich den Faden. Dass der Kreislauf verrückt spielt schiebe ich auf die Hitze, dass die Beine wieder schmerzen sind die blöden sexy Lederstiefel schuld. Was auch sonst?

Samstag Abend dann – es ist gerade dunkel geworden und in Köln feiert die Welt – plötzlich starke Schmerzen im Fuß. Ich muss aus den Stiefeln raus, schaffe es aber nicht alleine, weil ja auch die Beine so weh tun. Mein Mann reisst mir den Stiefel vom Fuß, und heraus kommt ein klumpiger, feuerroter Fuß. Er versucht einen Kühlakku zu organisieren und steht plötzlich mit den Sanitätern am Zelt. Vielleicht erinnert sich der ein oder andere von Euch an einen fluchenden mittelalten Mann mit einem Schuh auf einer Trage, der durch die betrunkenen Massen der Kölner Altstadt ins Erste-Hilfe-Zelt geschleppt wurde. Der Notarzt begutachtet das Ganze, orakelt keine Thrombose, kann sich aber auch keinen Reim drauf machen. Er empfiehlt einen Besuch im Krankenhaus, gegen den ich in Gedenken an An-Eckbert und Maule-Paule heftig widerspreche. Okay, Entlassung auf eigene Verantwortung und ein Eispack.

Für mich war der CSD da gelaufen. Die Schwellung ging zwar weg, die Schmerzen holten aber noch ihre Freunde dazu. Um nicht allen die Stimmung zu vermiesen und auch, weil ich in meiner geistigen Verwirrung gar nicht in der Lage gewesen wäre meine Aufgaben zu delegieren, behielt ich das für mich. Übung darin hatte ich ja.

Wieder zurück zuhause ging ich mit dem Fuß zum Hausarzt. Ein bisschen Rot und ein bisschen Schwellung war noch da. Seine Diagnose: Insektenstich. Ich versuche ihm klarzumachen, dass durch die Kleidung an diesem Tag kein noch so kleines Insekt hätte schlüpfen können: Knielange Strümpfe über den Fuß, dann Lederstiefel bis unters Knie, und eine knallenge Lederhose. Er lässt sich nicht beirren, nimmt aber Blut ab. Ergebnis: katastrophal hohe Entzündungswerte. Therapie: Ibuprofen. Kommt halt bei nem Insektenstich mal vor (WTF?!). Außerdem wäre ich ja total unangemessen gekleidet gewesen, solle meine Ernährung umstellen und aufhören zu rauchen. Tschüß.

August 2023

Lichtblicke. Mit Eintrübungen.

Der neue Job startet. Da ich Laden und Team ja schon von früher kenne, überwiegt die Freude. Nervös bin ich, weil ich noch nicht einschätzen kann wie das so mit meiner Pseudo-Psycho-Scheisse zusammenpasst.

Es passt gut. Die zwei halben Tage in der Woche verkrafte ich prima. Allerdings merke ich, dass die zwei Vollzeit-Tage mich ganz schön fordern. Nach Feierabend geht dann nur noch Essen und sonst nur Bett. Aber okay, dazwischen ist ja Zeit zum Erholen. Und bloß nix anmerken lassen, denn wenn Du jetzt sagst du bist schnell erschöpft, dann bist du wieder entweder ein komischer Psycho oder eben faul.

Ich kann es drehen und wenden wie ich will: die Konzentration ist und bleibt für’n Arsch. Gott sei Dank lässt sich das tarnen, indem man sich feste Abläufe zusammenstrickt. Nur wehe, es kommt was dazwischen. Geräusche sind blöd (der Staubsauger wird zum Erzfeind) und – irgendwie komisch – telefonierende Kollegen. Beides fühlt sich an, als würde der innere Akku kurzgeschlossen. Schnell entwickele ich Fluchtstrategien: man kann ja währenddessen was anderes machen. 

November 2023

Und schon wieder was Neues.

Die Vorbereitung für das Weihnachtsgeschäft bei KingBEAR laufen auch Hochtouren, ich produziere in jeder freien Minute Seife, plane Standlayouts und Werbeaktionen. Alles läuft rund. Okay, es dauert lange, aber hinsichtlich der Fehlerkorrekturmechanismen, die ich mir ganz sneaky aufgrund der Konzentrationsschwierigkeiten gebastelt habe, ist das auch okay. “Denkaufgaben” erledige ich frühmorgens, wenn alle noch schlafen. Da gibt es keine Störgeräusche (Atmen, Staubsauber, Wasserhahn, Vogelzwitschern…). Denn die werden mittlerweile zum Albtraum. Aber wie schon gesagt: es läuft, ich habe das Gefühl ich komme klar.

Und wie aus heiterem Himmel: Freitag abend, 2 Stunden Fieber mit Schüttelfrost, Schmerzen in den Beinen, Kribbeln in den Händen. Am Samstag morgen dann ein unglaublich schmerzhafter Ausschlag zwischen den Fingern, der zusehends schlimmer wird. Zum Glück hatten wir eine Hautärztin in der Nachbarschaft. Die macht zwar “nur privat”, aber das war dann auch egal. Sie schaut sich alles an, tippt auf Kontaktallergie. Ich habe aber wirklich nichts an den Händen gehabt, was ich sonst nicht auch dort hätte, und die Tage zuvor hatte ich auch nicht in der Seife gemengt. Und wie das dann halt so ist, konnte nix gefunden werden. Aber die Cortisonsalbe half.

Montags ging der Ausschlag dann auf, und auch die echt pappige Cortisonsalbe an den Fingern machte den Gedanken an ernsthaftes Arbeiten unmöglich. Also zum Hausarzt. Begrüßung: “was ist denn jetzt schon wieder?”. Und mit Blick auf meine Hände solle ich halt Baumwollhandschuhe anziehen. Schon mal mit Baumwollhandschuhen Brillengläser geschliffen oder Kontaktlinsen angepasst? Auf die zeitliche Korrelation mit all den anderen Symptomen ging er auch auf Nachfrage nicht ein. Widerwillig gab’s dann ne AU für 2 Tage, den Rest der Woche ging ich arbeiten und versuchte, Kundenkontakt zu vermeiden. Sah nicht schön aus. 

Es folgte eine lange Phase vermeintlicher Ruhe.

Dezember 2023 bis April 2024

Einfach Weitermachen.

Es hat sich etwas verändert. Die Fieberschübe bleiben aus. Was bleibt ist ein dauerhaftes, andauerndes Grippegefühl. Faktisch gibt es keinen Tag mehr, an dem ich mich gesund fühle. Ich schaffe alles, was geschafft werden muss. Aber kein Bisschen mehr, denn mit den alltäglichen Verpflichtungen ist die Energie auch weg. Bleibt dann doch mal etwas Restladung im Akku, dann möchte ich es der Welt zeigen: ich freue mich darüber so sehr, dass ich maximal verschwenderisch mit meinen Mini-Ressourcen umgehe. Und weil ich ausnahmslos nur noch in solchen Phasen unter Leute gehen, werde ich von außen als energiegeladen und spontan wahrgenommen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Ich bin nur so gut im Ignorieren geworden, dass ich das selber nicht mehr merke.

Die unweigerlich folgenden Tiefs haben nun endlich auch – zumindest meistens – sichtbare Konsequenzen. Über den Hautausschlag an den Händen freue ich mich fast, denn der gibt mir die Erlaubnis, auch nach außen mal mies drauf zu sein. Dass mir alle Knochen weh tun, dass ich Sehstörungen habe und dass ich kaum einen zusammengehörigen Gedanken denken kann, erfährt nur das engste Umfeld und auch nur dann, wenn es gar nicht mehr anders geht.

Das ist ein schönes Arrangement, denn es erlaubt sowas wie Teilhabe am normalen Leben. Dass es Kraft kostet, und zwar alle Kraft die ich habe, merke ich selber nicht mehr.

Es passiert viel Schönes in dieser Zeit, aber irgendwie passiert das nur noch zufällig. Unternehmungen am Wochenende sind nicht mehr drin – getarnt unter dem Deckmäntelchen der vielen Arbeit für KingBEAR ziehe ich mich in die Manufaktur zurück. Denn da merke nur ich selbst, dass ich mittlerweile doppelt so lange für jeden Arbeitsschritt brauche wie noch vor einem Jahr. Und in der Manufaktur ist genau das nicht schlimm, so dass ich da Energie auftanken kann. Die Arbeit ist beinahe meditativ, und mittlerweile habe ich die Abläufe im Qualitätsmanagement so auf meine Handicaps angepasst, dass Fehler einfach nicht mehr passieren können. Was irgendwie weg ist, ist Kreativität.

Da ich beschlossen habe, mit KingBEAR meinen Unterhalt zu bestreiten, reicht nun das Platzangebot nicht mehr aus. Im “Mehrgenerationen-Haus” in Ochtendung breiten wir uns immer mehr in die Gemächer der Hausherrin aus, was zunehmend auch zu Spannungen führt. Meine Handicaps stoßen zudem bei “Boomern” ganz allgemein auf Unverständnis, und spätestens aufgrund meiner “Hyper-Aktivität” morgens ab 4 hat es dann doch das ein oder andere Mal gekracht. Durch einen dieser glücklichen Zufälle taucht dann das Haus in Kollig auf. Gesucht haben wir schon irre lang, aber das ist perfekt. Jetzt sind schnelle Entscheidungen gefragt und gute Planung.

Verträge zu machen und Budgets zu planen habe ich mal gelernt und gelebt. Jetzt scheint das plötzlich wie “olympische Raketenwissenschaft”. Ich schließe den Akku kurz und bekomme das irgendwie hin, die Vorfreude auf den Umzug und darauf, endlich wieder etwas gestalten zu können, macht mich blind für die Konsequenzen.

Mai / Juni 2024

Der Umzug

KingBEARs Umzug wird eine sportliche Nummer. Wir beide haben nur wenige Urlaubstage zur Verfügung, denn das meiste geht für Märkte und Events drauf. Und so kloppe ich selber rein: nach Feierabend und an den Wochenenden.

Es ist unglaublich viel zu tun, um aus der alten Loggia eine Manufaktur zu machen. Viel zu planen, und echt viel Knochenarbeit. Irgendwie mobilisiere ich die Kraft dafür, immer unterbrochen von unendlich vielen Pausen. Und es funktioniert, sogar so gut dass ich mich bei dem Gedanken ertappe, dass mein Long-COVID jetzt endlich vorbei ist. 

Tatsächlich aber habe ich meine Ignoranz perfektioniert. Die Symptome sind nicht weg, ich nenne sie nur anders: Muskelschmerzen sind jetzt Muskelkater, Konzentrationsprobleme heißen Zeitmangel, und total erschöpft darf man ja sowieso sein wenn man was körperlich macht. Und weil es so schön ist im Sommer im Grünen, spült man alles andere halt zum wohlverdienten Feierabend mit Gin Tonic runter. 

Dann gab es eine Woche, in der nix zu tun war. Warten auf Baumaterial. und schlagartig war dieses Grippegefühl wieder da. Das konnte ich nun gar nicht brauchen, also ab zum Doc. “Stellen Sie Ihre Ernährung um und bewegen Sie sich mehr”. Okay, aber er weiss doch gar nicht wie ich mich ernähre. Und wie soll ich mich denn ernähren? Und mit Verlaub: an Bewegung hat es mir jetzt nicht gerade gemangelt. “Aber ich hab da was tolles, das hilft ganz vielen Patienten. Medivital-Spritzen! Brauchst Du nur 8 Stück zu je 15 Euro, hilft ganz bestimmt.”

Okay, lassen wir nichts unversucht. Spritze 1: nix gemerkt. Spritze 2: 10 Uhr in die Arschbacke, 14 Uhr Fieber mit Schüttelfrost, 18 Uhr totale Erschöpfung, Kopfschmerzen, Muskelschmerzen. Nächster Tag: Hautausschlag. Das war mal nix. Darauf angesprochen sagt der Arzt, ich sei auch mit nichts zufrieden, man müsse das über einen längeren Zeitraum machen und ob ich meine Ernährung schon umgestellt hätte.

Das Brot steht jetzt links statt rechts im Schrank.

Juli 2024

Angekommen.

Wir sind fertig mit Umzug und Umbau. Ab jetzt wird gelebt. Ich freue mich über die Ruhe, denn die gibt mir Energie. Und ich freue mich über die Wildnis um uns herum, denn die gibt Zerstreuung und die Erlaubnis, Gedanken einmal abschweifen zu lassen.

Grippegefühl und Muskelschmerzen gehen nicht mehr weg, dazu kommen jetzt auch Gelenkschmerzen vor allem in den Händen. Das ganze kommt in Wellen und immer im Paket, sehr oft kommt der nervige Ausschlag dazu, den ich einfach mit Cortisonsalbe wegschmiere. Zum Arzt gehe ich nicht mehr, denn beim letzten Besuch (Gelenkschmerzen im Paket) kam wieder ein süffisantes “was ist denn jetzt schon wieder?”, eine 30-Sekunden-Diagnose ohne jeden Gelenkkontakt (Arthrose, bekommt man in Ihrem Alter) und der Vorschlag, mir (selbstverständlich auf eigene Kosten) eine Gelenkschiene zu besorgen. Auf der AU, nach der ich nicht gefragt und die ich einfach durch Arbeit ignoriert habe, stand dann lediglich eine dieser berüchtigten F-Diagnosen. Sprich: ich bin jetzt offiziell Psycho, man sagt mir das aber nicht ins Gesicht. Ab jetzt bin ich also auf mich allein gestellt.

Wir fahren zum CSD nach Köln. Diesmal haben wir Kühlpacks und eine üppige Hausapotheke im Gepäck. Diesmal läuft’s nicht gut: es sind weniger kauflustige Menschen da, tatsächlich auch weniger Lustige. Liegt wohl am verschobenen Termin, geht nicht nur uns so. Shit happens. Mir selber geht es hundsmiserabel – ich kann mich kaum auf den Beinen halten und würde lieber im Bett liegen als am Stand in der Sonne zu stehen. Nach außen lächele ich das weg, nach innen schiebe ich meine miese Verfassung auf die schlechten Umsätze. Einfache, naheliegende Lösung.

Wieder zurück merke ich, dass mein Maximal-Niveau gefallen ist. Im Garten lädt der Akku auf, ganz egal ob ich dort einfach nur sitze oder rumwerkele. Aber selbst voll geladen reicht sein Inhalt nur noch für einen halben Tag Power.

August / September 2024

Ein Wunder. Und ein Absturz.

Eine Mail flattert unerwartet ins Haus, gerade so vorbei am Spamfilter. Ich bekomme eine Einladung in die Long-COVID-Ambulanz. Termin Anfang Oktober. Selbstverständlich sage ich zu, denn mittlerweile fällt mir das Weg-Ignorieren schwer. Ich muss mich jeden Tag entscheiden, ob ich meine Energie ins Ignorieren stecke oder in produktive Dinge.

Meine zunehmende Unfähigkeit, Kleinigkeiten richtig und in angemessener Zeit zu erledigen, tarne ich in Superlativen. Die täuschen hervorragend darüber weg, was alles irgendwie nicht mehr so richtig will. Ich fange an, kleine Fehler einfach passieren zu lassen, damit ich noch genug Power für solche Blendgranaten habe. Das ist unglaublich anstrengend und macht alle Symptome kontinuierlich schlimmer. Gegen die Schmerzen nehme ich heimlich Ibuprofen. 1200mg und mehr pro Tag. Dann fühlst Du Dich zwar wie in warme Watte gewickelt und irgendwie rauscht es in den Ohren, aber wenigstens schaffst Du es noch, den Gute-Laune-Bär zu geben. Meistens. 

Manchmal aber auch nicht, was mein Umfeld hinsichtlich meiner Befindlichkeiten zunehmend verunsichert. Nicht jeder sagt mir das ins Gesicht (mein Chef schon, und dafür sei er gedrückt!), aber ich spüre das. Es folgen jede Menge gut gemeinte Ratschläge, die mich aber vollends überfordern. Ein nettes “geh doch mal in Ruhe mit dem Hund spazieren” macht mich wütend und traurig zugleich, leider trifft die Wut dann völlig fehlgeleitet den Ratschlagenden. Auf den Spaziergang folgt der Zusammenbruch, und mittlerweile ist die maximal tolerierbare Strecke so kurz, dass ich den Hund per Stöckchenwurf bewegen könnte. Aber auch hier stelle ich mir wieder selber ein Bein, warte auf einen gut geladenen Akku und simuliere dann einen Marathon. Um es mir selber zu beweisen und den anderen den Gefallen zu tun, noch der Alte zu sein. Den Zusammenbruch am Wochenende sieht dann niemand. Nur mein Mann, vor dem das Verstecken jetzt auch nicht mehr funktioniert.

Ende September kommt dann der erste Crash, den ich als solchen wahrnehme und bei dem mir die Kraft fehlt ihn zu überspielen. Mir bleibt nichts anderes übrig als die Arbeit zu unterbrechen und in die nächstbeste Arztpraxis zu schwanken. Dort kann man mich zwar nicht als neuen Patienten aufnehmen, hört sich aber alles an, untersucht sicherheitshalber auf schwere Herz-Kreislauf-Probleme. Bei der Frage, ob ich eine Krankmeldung brauche, ertappe ich mich dabei zu diskutieren, warum ich keine haben möchte. Ausnahmsweise funktioniert das Hirn mal schnell und befiehlt, ich solle diese kranke Scheisse jetzt lassen und einfach mal zuhause bleiben. Der Chef zeigt sich verständnisvoll. Ich hasse ihn dafür (herzlichst!), denn ich selber fühle mich wie ein scheiss Versager, der ausgerechnet die im Stich lässt, die ihn immer unterstützen.

Die 5 Tage Ruhe bringen erstaunlich viel. Immerhin der Körper kommt wieder zu Kräften, wenn auch auf frustrierend niedrigem Niveau und quälend langsam. Was bleibt ist das Gefühl, nicht mehr leisten zu können und die wachsende Angst, dass am Ende doch der Arzt recht hat und alles nur Balla-Balla ist. Denn da müsste ich selber rauskommen, und dazu habe ich keine Kraft mehr.

Oktober 2024

Finale.

Der Termin in der Long-COVID-Ambulanz rückt näher und ich fiebere ihm entgegen. Gedanklich bin ich rund um die Uhr damit beschäftig alles zu sortieren, was die vergangenen fast 2 Jahre passiert ist. Ich versuche, den unglaublichen Groll auf die Ärzteschaft zu bändigen und auf eine rationale Ebene zu bringen. Und ich will bei dem Termin nichts falsch machen, bloss nichts andeuten was auch nur im geringsten in die gefürchtete Psycho-Ecke deutet. Ich setze alle Hoffnung in diesen Termin, seine Vorbereitung nimmt meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch und sie kurbelt tief sitzende Ängste an. Schlaflose Nächte und Tage ohne Kraft und voller Fehler sind die Folge.

Und dann passierts: Kurz vorher erwischt mich Corona ein zweites Mal. Das passiert, wenn Menschen zusammenkommen, und das ist in den meisten Fällen nicht weiter tragisch. Und wieder das gleiche Spiel: ich starte mit hohem Fieber und Schmerzen überall in eine volle Woche, während mein Mann ein bisschen rumhustet und zwei Tage etwas schlapp ist. Neben der krankheitsbedingten Abgeschlagenheit macht sich Panik breit: was, wenn ich den Termin in der Ambulanz jetzt nicht wahrnehmen kann? Wieder zwei Jahre warten? Das packe ich nicht.

Es klappt aber dann doch. Und zum ersten Mal in 2 Jahren nimmt eine Medizinerin mich ernst, hört sich alles an, erteilt mir die Erlaubnis krank zu sein. Ich stammele mich durchs Gespräch und muss sehr viel nachfragen. Die Berge von klinischen Fragebögen sind ermüdend und erschütternd zugleich, denn da werden plötzlich Dinge gefragt über die ich nie nachdachte und die doch so wahr sind. Eben solche Dinge, die so dermassen erfolgreich wegignoriert wurden, dass man sie noch nicht mal vergessen hat – sie sind einfach nicht mehr da.

Es folgt eine sehr ausführliche Diagnostik, und ziemlich schnell ergibt sich ein klares Bild: “sie haben ME/CFS”. Bei der Aussage ging ich dann doch erst mal auf innere Verweigerung, denn natürlich habe ich mich vorher mit meiner Symptomatik auseinandergesetzt. Die von ME/CFS betroffenen waren aber in den Dokus alle diese schwerkranken Menschen, die das Bett nicht mehr verlassen konnten. Dass die auch alle mal “klein angefangen” haben, musste ich auch erst mal kapieren.

Nach dem Ersttermin war ich erst mal erleichtert. Vor allem erleichtert, kein “Psycho” zu sein und was Greifbares in der Hand zu haben. Auch wenn ich mir natürlich ausgerechnet was unerforschtes und nicht heilbares rausgegriffen habe. Die Tatsache, dass ich nun echt viel tun muss um nicht vom “kleinen Anfänger” zum Pflegefall zu werden, wurde mir erst am Tag darauf bewusst. 

Nie wieder darf ich meine Belastungsgrenze überschreiten. Klingt so einfach, ist aber in der Realität dann doch etwas komplizierter. Vor allem, wenn man sein ganzes Leben darauf gedrillt wurde über Grenzen zu gehen und das auch gerne getan, sich oft auch darüber identifiziert hat. Hinzu kommt: ich kenne die Grenze nicht, und sie ist nicht fix. Und auch Belastungsfaktoren zu erkennen und richtig einzuordnen ist nicht einfach. Nur genau dieses Pacing ist derzeit das einzig probate Mittel, den weiteren Verfall zu stoppen. Und – traurige Wahrheit – Ziel ist nicht die Wiederherstellung der alten Leistungsfähigkeit, sondern Stagnation. Das Wort an sich ist schon “Bäh”, wenn man aus der Betriebswirtschaft und der Personalentwicklung kommt. Aber: challenge accepted, es hilft ja nix.

Der nächste Schock: sämtliche Therapieansätze sind experimentell. Das heisst, sie werden nicht von der Krankenkasse erstattet. Und so sind schon mit der ersten Monatsration Medikamente und Nahrungsergänzung hunderte von Euro futsch. Plus Hilfsmittel wie Pillendose (ohne bekomme ich das nicht mehr auf die Kette) oder Stützstrümpfe (sexy, nicht wahr?). Bei der Empfehlung einer hyperbaren Sauerstofftherapie zu je 2500 Euro pro Zyklus war ich dann raus. Nicht finanzierbar. Wie das jemand ohne zweites Standbein und mit reduzierter Arbeitsfähigkeit dauerhaft gestemmt bekommen soll ist mir schleierhaft, und auch wir gehören jetzt trotz allem nicht gerade zu den Großverdienern und werden uns einschränken müssen.

Die erneute COVID-Infektion zusammen mit dem Vorbereitungsstress auf den Termin und seinen Folgen brachten mich final in den Crash meines Lebens. Aktuell geht faktisch nichts außer Bett, Couch, Bad. Und die letzteren Beiden sind auch schon wieder eher belastend. Mittendrin in diesem Zustand dann noch ein Folgetermin in der Ambulanz mit weiteren Tests. Die Diagnose wurde darin final bestätigt und ein paar Pläne geschmiedet, wie eine Zukunft trotz ME/CFS aussehen könnte. Die gibt es und die sieht akzeptabel aus, denn der Status Quo kann noch erhalten werden wenn jetzt die richtigen Maßnahmen greifen. Pacing wird das wichtigste Instrument werden und gleichzeitig das, was mir Stand jetzt die meisten Sorgen bereitet: das bin so gar nicht ich, ich muss mich neu erfinden. Und ein paar weitere Herausforderungen stehen bevor: fahrtüchtig bin ich nur eingeschränkt – wie komme ich von A nach B? Kann ich weiter so arbeiten oder muss ich Rente beantragen? Wie finanzieren wir das Ganze, wenn doch noch aufwändigere Therapien nötig werden? Alles noch auf Anfang, alles noch im Werden, alles Scheiße, denn da willst Du mit Mitte 40 eigentlich nicht drüber nachdenken. 

Das Mimimi zum Schluss: ich schreibe diesen Beitrag in einem hundsmiserablen Zustand. Einem, den ich in diesem Ausmaß noch nicht kannte und mit dem ich noch nicht so richtig umgehen kann. Eigentlich wäre jetzt zwecks Regeneration absolutes Nichts-Tun angesagt, aber dafür geht mir einfach zu viel durch den Kopf. Andere Betroffene können das sicher gut nachvollziehen. Das alles zu schreiben und auch eine Kampagne daraus zu machen ist unglaublich anstrengend, und viele Sätze musste ich drei, viermal runtertippen bis sie Sinn ergaben. 

Aber es tut gut, dass alles mal festzuhalten. Es hilft dabei, die frustrierende und demütigende Vergangenheit loszuwerden und im Kopf für eine geordnete und etwas optimistischere Zukunft aufzuräumen. Auch ein wenig Selbsterkenntnis ist dabei, und auch die ist wichtig um in Zukunft den richtigen Weg zu gehen. Das Aufschreiben war wichtig, denn im Gespräch – sei es mit einem Gesprächspartner oder sei es ein innerer Dialog – bin ich derzeit gar nicht in der Lage, mehr als zwei oder drei sinnvolle Sätze zusammenzubasteln.

Ich weiss, dass es anderen Betroffenen sehr ähnlich geht. Und doch auch anders, denn lange nicht jeder hat den Luxus so etwas überhaupt noch zu können. Umso wichtiger erscheint es mir, dies alles nicht nur für mich festzuhalten sondern auch zu teilen, damit andere ein bisschen mehr Verständnis dafür haben, wie verbittert man mit diesem Mist werden kann.

Und noch was Wichtiges: Wenn ich hier von “Psycho” und “Balla-Balla” rede, dann meine ich das mit einem Augenzwinkern. Es geht nicht um einen “Wettbewerb” zwischen ME/CFS und Depression. Beides ist richtig große Kacke, und beides gleichermaßen schwer für Betroffene. Und beides hat in der Alltags-Medizin ein großes Problem: es wird nicht sauber diagnostiziert und all zu oft nicht ernstgenommen. Viele “organisch” Kranke bekommen den Stempel der Depression aufgedrückt, und viele Depressive werden einfach alleingelassen oder nicht mehr auf weitere organische Erkrankungen untersucht. Und sowohl mit einer Depression wie auch mit ME/CFS müssen sich Betroffene auf der Suche nach Hilfe durch einen Wahnsinn wurschteln, den sie mangels Energie eigentlich nicht meistern können. Das ist für eine Gesellschaft, die ihre Moral gern sehr hoch aufhängt wie unsere, sehr, sehr traurig. Hier werden Menschen mit ernsthaften Problemen viel zu lang allein gelassen. Und hast Du erst mal den Stempel “psychische Erkrankung”, dann beginnt nur all zu oft (ich wage zu behaupten: immer!) die Stigmatisierung und – noch viel Schlimmer die Kette der versteckten Vorwürfe: “Hättest Du damals mal… / Wenn Du das willst, dann schaffst Du das / Warum hast Du denn nichts gesagt?”. Dieser Bullshit muss aufhören. Es kann nicht sein, dass man als Patient beim Arzt Angst vor einer Diagnose statt Angst vor einer Krankheit haben muss.

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